Ich komme hier in meiner Nachbarschaft in Chicago oft an diesem alten Fabrikgebäude vorbei:
Der Name Dietzgen fiel mir gleich auf. Und tatsächlich: Eugene Dietzgen (1862–1929) war der Sohn des Philosophen Josef Dietzgen (1828–1888).
Josef Dietzgen verfasste zunächst unabhängig Schriften über einen Dialektischen Materialismus, z.B. das Buch "Das Wesen der Menschlichen Kopfarbeit", wurde dann aber ein glühender Verfechter der Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels, die ihn ihrerseits ebenfalls sehr schätzten. Marx nannte ihn 1872 auf dem Den Haager Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation „unser Philosoph“.
Josef Dietzgen in Amerika
Dietzgen emigrierte aufgrund politischer Verfolgung in die USA, und zwar von 1849 bis 1851 und 1859 bis 1861, kehrte zwischenzeitlich nach Deutschland zurück und lebte schließlich endgültig von 1884 bis zu seinem Tod im Jahr 1888 in Amerika. Von 1884 bis 1886 war er Chefredakteur der Zeitung Der Sozialist in New York und zog dann auf Drängen seines Sohnes Eugen Dietzgen nach Chicago. Dieser schrieb seinen Namen amerikanisch als Eugene und betrieb eine Fabrik für Büromöbel und später technische Zeicheninstrumente. Beeinflusst von den sozialistischen Überzeugungen seines Vaters sorgte Dietzgen dafür, dass in seinem Unternehmen menschenwürdige Arbeitsbedingungen herrschten.
Josef Dietzgen und die Chicagoer Arbeiter-Zeitung
Josef Dietzgen schrieb in Chicago zunächst an eigenen Werken und übernahm dann die Redaktion der auf Deutsch erscheinenden anarchistischen Chicagoer Arbeiter-Zeitung, unmittelbar nachdem deren Chefredakteur August Spies wegen des Bombenanschlags am Haymarket zunächst verhaftet und dann unschuldig hingerichtet wurde. (In den ersten Tagen nach dem Bombenanschlag waren zudem fast alle Mitarbeiter der Zeitung verhaftet worden, was die Existenz des Blattes ernsthaft bedrohte.) Die Anarchisten in Chicago, dass sei hier erwähnt, waren eine besondere anarchistische Bewegung, die mehrheitlich nicht auf individuelle Gewalttaten, sondern auf eine revolutionäre Erhebung der arbeitenden Massen setzte, die eine Gesellschaft ohne Machtstrukturen zum Ziel hatte. In Chicago standen Tausende Anarchisten, die meisten von ihnen Deutsche, an der Spitze der Achtstunden-Bewegung, die Anfang Mai 1886 ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte und vom Kapital als ernsthafte Bedrohung angesehen wurde.
Dietzgen selbst war kein Anarchist, aber er half der Arbeiter-Zeitung mutig in einer Zeit, in der in Chicago eine regelrechte Hexenjagd auf Anarchisten und Sozialisten stattfand. (Darum geht es in meinem Auswanderer-Krimi "Mit Müh und Not"). Er war der festen Überzeugung, dass die Arbeiter besonders in dieser Zeit eine eigene Zeitung benötigten. Auch sein Haus wurde von der Polizei durchsucht, aber er ließ sich nicht einschüchtern.
Bemerkenswert ist, dass Dietzgen der Arbeiter-Zeitung (und den Wochenendausgaben Der Vorbote und Die Fackel) seine Arbeitskraft ohne zu zögern und unentgeltlich anbot, obwohl diese oft abfällig über ihn geschrieben hatte, so wie das in innerhalb der verschiedenen sozialistischen Strömungen nicht unüblich war. Aber Dietzgen betonte, dass die Gemeinsamkeiten von Anarchisten und Sozialisten wichtiger als die Unterschiede waren. (Diese Haltung macht ihn zu einer besonderen Persönlichkeit in der Geschichte der Arbeiterbewegung, in der jeder die wahre Lehre für sich in Anspruch zu nehmen scheint.) Als Folge wurde er von vielen Sozialisten angefeindet, aber er bereute seinen Schritt nicht.
Josef Dietzgen war noch nicht einmal 60 Jahre alt, als er am 15. April 1888 nach einem Sonntagsspaziergang und dem Mittagessen im Haus seines Sohnes im Chicagoer Stadtteil Lincoln Park an einem Herzinfarkt starb, inmitten eines politischen Streitgespräches mit einem Bekannten des Sohnes.
Seine Familie beerdigte ihn Seite an Seite mit den hingerichteten Anarchisten auf dem Waldheim Friedhof (heute Forest Home Cemetery), nahe Chicago.
Falls ich euer Interesse an den Ereignissen in Chicago geweckt habe: Mit Müh und Not
"Wie auch mit den ersten beiden Bänden schaffte Kai Blum es erneut, mich zu begeistern. Authentisch schildert er die historischen Ereignisse und hat die fiktiven Charaktere mit ihren Erlebnissen gekonnt eingebaut." (Die-Rezensentin.de)
"Man spürt regelrecht die gespannte Atmosphäre in der Stadt." (Histo-Couch.de)
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